Motive der Menschheit: Wie neue Geschichten aus den immer gleichen Zutaten entstehen

Präsentation, Storytelling, Trainings

Zum Abschluss meiner Blogserie zum Thema Storytelling in Präsentationen wende ich mich noch einmal dem Kern von Geschichten zu: Was macht eigentlich eine gute Geschichte aus, aus welchen Zutaten wird sie zubereitet und nach welchen Erzählmustern wird sie erzählt. Dabei ist die überraschende Erkenntnis, dass wir einfach gesagt, die gleichen Geschichten immer wieder erzählen – allerdings in einer großen Varianz.

Warum Geschichten die Zeiten überdauern und sich in neuen Zeiten immer wieder neu erzählen

Gerade neulich wurde ich wieder auf das Phänomen der Haltbarkeit von Geschichten gestoßen. Bei unserem Kunden, einem DAX-Unternehmen, hatten wir vor vielen Jahren im Rahmen einer internen Kommunikation eine Geschichte mit Michael Jordan rund um das Claiming “Change the game” entwickelt. Basketball. Am Ende hatte der Top-Manager, selbst US-Amerikaner und einst in College-Zeiten wohl ein ziemlich guter Spieler, einige Wilson-Basketbälle dabei, die er seinen Leuten im Rahmen eines Townhalls effektvoll zupasste. Jetzt mehr als sieben Jahre später bekam ich einen Anruf und jemand erinnerte sich daran. Ernsthaft? Manchmal ist es auch der Boden, auf den eine Maßnahme fällt. In dem Buch Momentum, das er Anfang der 2000er gemeinsam mit Jean-Remy von Matt veröffentlichte, erzählt die Werbeikone Holger Jung von einem ausgedehnten Waldspaziergang. Stundenlang keine Zeichen menschlicher Zivilisation. Bis da dieses Infoschild zur Fauna und Flora des Waldes auftaucht. Geradezu gierig stürzen wir uns auf dieses Zeichen menschlicher Zivilisation.

"After nourishment, shelter and companionship, stories are the thing we need most in the world."

Philip PullmanBritischer Schriftsteller

Das passiert, wenn in einem Townhall Meeting, in dem normalerweise in Präsentationen eher Hausmannskost dargeboten wird, plötzlich Bälle zugepasst werden. Und das ist natürlich auch die Chance, die wir, wenn wir hier in dieser Blogserie über Präsentationen sprechen, bei jeder einzelnen Präsentation haben. Wo findet sie statt? Was passiert davor und was soll danach passieren? Und wie können wir dort Wirkung entfalten? In unserer Geschichte liegt danach ein handsignierter Basketball mit dem Claiming Change the game in den Büros. Ganz schon dick aufgetragen? Stimmt. In diesem Fall aber wirkungsvoll und authentisch mit der handelnden Person auf der Bühne verbunden (s. dazu auch den Blogtext mit Verweis auf Stefan Wachtel). Jeder weiß, dass es sich hier um eine Inszenierung handelt. Gleichzeitig steht aber außer Frage, dass der vorne auf der Bühne steht, das glaubt, das lebt, wovon er spricht. Er, der selbst einst ein guter College-Basketballer gewesen war, darf das. Nicht nur weil er einmal ganz gut Basketball gespielt hat: Er darf das, weil es seiner Rolle entspricht, hier in diesem Townhall Meeting als Anführer zu stehen und den Leuten den Ball zuzupassen. Pass. Same team. Pass. Can I count on you? Und doch ist das nicht alles. Diese Geschichte hat einen Kern, die sie erst interessant macht. Michael Jordan. Es geht immer wieder um dasselbe sehr machtvolle Narrativ von Scheitern, Aufstehen und trotzdem Weitermachen. Um am Ende zu reüssieren, muss eine Strecke zurücklegt werden, deren Weg vor allem von einem gekennzeichnet ist: von Arbeit, sprichwörtlich schweißtreibender. „If you’re trying to achieve, there will be roadblocks. I’ve had them; everybody has had them. But obstacles don’t have to stop you. If you run into a wall, don’t turn around and give up. Figure out how to climb it, go through it, or work around it.“ Es sind Sätze wie dieser von Michael Jordan, die uns selbst ein bisschen wie Air Jordan abheben lassen. Insbesondere wenn sie mit dem richtigen Gefühl für Timing an der passenden Stelle einer Präsentation eingesetzt werden. „I’ve missed more than 9000 shots in my career. I’ve lost almost 300 games. 26 times, I’ve been trusted to take the game winning shot and missed. I’ve failed over and over and over again in my life. And that is why I succeed.“ Dieser Satz ist wie eine Miniatur, in der die ganze Geschichte von Scheitern, Aufstehen, Weitermachen abläuft. Sie berührt uns, weil uns aller Inszenierung zum Trotz, die erkennbar auch dieser Satz enthält, ein Mensch begegnet. Eine Ikone ist unerreicht. Ein Mensch, der wie wir alle scheitert und dann wieder aufsteht, können wir uns vorstellen. Es ist ein altes Narrativ. Nicht weil Jordan ein Basketball-Ikone der 80er und 90er war. Das natürlich auch. Sieben Jahre nach dem geschilderten Townhall haben wir wahrscheinlich alle einmal zu viele Jordans Zitate auf Facebook oder Instagramm gelesen. Auch Legendenerzählungen sind konjunkturellen Schwankungen unterworfen. Es ist ein altes Narrativ in dem Sinne, dass sich darin Motive  finden, die viel älter sind als Jordan und die NBA. Hier ist das Motiv Vom Bettler zum König, und bei Jordan, der mehrere Karrieren in einer und viele Ups und Downs erlebte, sicherlich auch die der Wiedergeburt. Diese Motive sind unsere Anknüpfungspunkte. Als Zuhörer und Empfänger knüpfen wir an, gerade weil uns die Geschichten bekannt sind. Es ist eine alte Geschichte, doch geschieht sich täglich neu. Vielleicht ist es auch diese Bekanntheit, die am Ende den gedanklichen Übertrag zu unserem eigenen Leben erst möglich macht. Das ist, was diese Narrative so kraftvoll macht.

5 Motive der Menschheit: Wie sich Geschichten entlang von Urmotiven immer wieder neu erzählen

Es ist wie immer im Leben, wenn man sich mit einem Thema tiefer gehend beschäftigt: Unter der Oberfläche sind die Dinge meist sehr viel komplexer, als man im ersten Moment denkt. Die Berliner Germanistin Elisabeth Frenzel hat sich ein ganzes Forscherleben mit der Systematisierung von Stoffen und Motiven der Weltliteratur beschäftigt. Darin bestätigt sich das Bild, dass sich dieselben Geschichten immer wieder neu und übrigens auch weitererzählen. Ein großes Beziehungsgeflecht von sich wiederholenden Geschichten, Motiven und Stoffen, die an einer Stelle aufgenommen und an anderer weitergesponnen werden. Wie viel komplexer wird das Bild, wenn man es auf die Ebene der Geschichten aus Wirtschaft, Politik oder auch Sport erweitert. Eine Welt aus Narrativen, komplex und beziehungsreich. Einerseits. Anderseits scheint es dahinter aber einige Grundmotive zu geben, die besonders universell sind. Zumindest ist das, was mein Eindruck ist, seitdem ich diese Grundmotive als 5 Motive der Menschheit, kennengelernt habe. Bildet euch selbst ein Urteil und probiert das Spiel aus, wenn ihr euch den nächsten Film auf Netflix anseht.

1. Die Überwindung des Monsters

Das wahrscheinlich einfachste Grundmotiv einer Geschichte ist Die Überwindung des Monsters. Das Monster ist ein starker unmenschlicher Feind mit scheinbar unbezwingbaren Kräften. Der Plot entwickelt sich daran, dieses Monster zu überwinden. Es gehört zum Wesen das Monsters, dass es immer schon da war. So wie der Drache in Smaugs Einöde schon immer in seiner Höhle schlummerte, ist auch der Weiße Hai die immer dagewesene Bedrohung der heilen Strandidylle. Wir waren zu unachtsam, hätten es kommen sehen müssen. Jetzt haben wir das Monster geweckt. Ihr merkt schon, es gibt viele Monster und sicherlich noch mehr Wege eure Zuhörer mitzunehmen bei der Überwindung des Monsters. Am besten mit einem Augenzwinkern. Es ist nämlich so: Es gibt eigentlich gar keine Monster.

2. Vom Bettler zum König

Vom Bettler zum König ist gleichzeitig die klassische Heldengeschichte. Sie handelt davon, wie es dem Helden gelingt, durch harte Arbeit am Ende ganz oben anzukommen. Dieses Narrativ ist sehr mächtig, da es von uns selbst und unserer eigenen Hoffnung und letztlich Selbstbestimmtheit handelt. Rocky Balboa nimmt uns im ersten Rocky-Film mit auf diese Reise. Und auch einer meiner persönlichen Lieblingsfilme The Pursuit of Happyness arbeitet mit diesem Motiv. In dem Film, der auf der wahren Geschichte von Chris Gardner, dem Gründer der gleichnamigen Firma, basiert, spielt Will Smith einen obdachlosen Verkäufer und Vater eines fünfjährigen Jungen, der es am Ende mit Willen und Entschlossenheit zu einem erfolgreichen Unternehmer schafft. Der biografische Bezug, wie auch schon bei Michael Jordan gesehen, macht das Motiv natürlich noch mächtiger.

3. Die Mission

Die Mission handelt von Gemeinschaft. Die Gefährten heißt der erste Film einer der berühmtesten und erfolgreichsten Filmsagen aller Zeiten: Herr der Ringe. In der Gemeinschaft hat jeder seine Rolle und seine Aufgabe. Wenn einer fehlt, ist die gesamte Mission gefährdet. Natürlich ist Frodo Beutlin die Hauptfigur. Aber was wäre er ohne Samwise Gamgee, ohne Legolas, ohne Aragon oder ohne Gandalf? Sogar Boromir, der wankelmütige König des Menschengeschlechts, der kurz davor ist alles zu gefährden, opfert am Ende sein Leben für die Mission. Alle geben alles für das eine Ziel. So wie Bruce Willis sich am Ende von Armageddon als nichts mehr hilft, mit dem Meteoriten, der die Menschheit auszulöschen droht, kurzerhand in die Luft sprengt. Es muss nicht immer gleich so martialisch sein, aber das Motiv der Mission ist tief mit uns und unserer Frage nach Sinn und auch Gemeinschaft verknüpft.

4. Die Reise in eine neue Welt

Alice im Wunderland ist eine Reise in eine neue wunderbare Welt, in der die Gesetze der Natur, so wie wir sie kennen, außer Kraft gesetzt sind. Durch den Bau eines Kaninchens gelangt sie in bunte Fantasiewelt, wächst teilweise zu riesenhafter Größe oder wird wieder ganz klein. Daraus entstehen neue Perspektiven, die auch bisher für wahr gehaltenes in Frage stellt. Einer der wahrscheinlich bekanntesten zeitgenössischen Filme, der mit diesem Motiv der Reise in eine neue Welt arbeitet, ist der Film Avatar. Kriegsveteran Jake ist an einen Rollstuhl gefesselt. In der Welt von Pandora kann er mit Hilfe eines Avatars nicht nur laufen, er begegnet auch einer anderen Gesellschaft und Lebensweise, die mit sich und der Natur im Reinen lebt. In dem Utopischen kann die neue Welt also als Gegenentwurf zur realen Welt gelten.

5. Die Wiedergeburt

Eine der Lieblingsgeschichten meines fünfjährigen Sohnes ist die von den Bremer Stadtmusikanten. Ein zweihundert Jahre altes Märchen? Wer noch einen Beweis für die Haltbarkeit von Geschichten brauchte, hier ist er. Zwischen Dinosauriern, Astronauten, Feuerwehrmann Sam und Vampiren also die Stadtmusikanten. Hier haben wir es mit dem Motiv der Wiedergeburt zu tun. Der Esel, der Hund, die Katze, der Hahn – sie alle sind nur knapp dem Tod entronnen, beschließen ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, machen sich mutig auf den Weg nach Bremen und nehmen es mit den gefährlichen Räubern auf, die sie schließlich in die Flucht schlagen. So finden sie eine neue Heimat, zwar nicht in Bremen, aber in einem Haus im Wald, wo es sich offensichtlich gut aushalten lässt. Moderne Version der Wiedergeburt gefällig? Apple – in diesem Fall in gleichzusetzen mit der Geschichte von Gründer Steve Jobs. Wir alle haben diese Geschichte fest im Kopf: Steve Jobs wird aus dem Unternehmen gedrängt, wenige Jahre später ist Apple nur noch ein Schatten seiner selbst, bis er zurückkommt und das Unternehmen zu neuer nie dagewesener Strahlkraft führt. Das ist Stoff aus dem Legenden entstehen.

Exkurs: Was gut erzählte Geschichten von Geschichten unterscheidet – ein Blick in die Werkstatt von Pixar.

Wer tiefer in das Thema Storytelling eintauchen möchte, dem sei das Buch „Pixar Storytelling. Rules or effective storytelling based an Pixar’s greatests films“ von Dean Movshovitz ans Herz gelegt. Unter anderem an dem Film Ratatouille erklärt Dean Movshovitz darin, die Logiken gut erzählter Geschichten. Das beginnt bei der Anlage der Grundidee: Remy ist eine hochintelligente und idealistische Ratte mit einem außergewöhnlichen Geschmackssinn, deren Traum es ist, ein Sternekoch zu werden. In dieser Grundidee ist das gesamte Drama schon angelegt: eine Ratte will Sternekoch werden. Zu dieser Grundlage aber auch aus der mehrdimensionalen Schilderung des Helden mit all seinen Schwächen, die ihn auf dem Weg zum Ziel immer wieder stolpern lassen, erwächst das Drama.

"If the conflict in your story merely allows your character to show their skills, or to stretch them, you’re only halfway there. Try cranking up the discomfort, forcing your characters to dispense with whatever baggage is hindering them, and build themselves anew, to deal with the threats you’ve created."

Dean MovshovitzScreenwriter, Autor und Redner

Die Fehlbarkeit des Helden ist Grundvoraussetzung dafür, dass wir als Zuschauer Empathie mit dieser kleinen Ratte entwickeln können. Die kleine Ratte erlebt die Reise Vom Bettler zum König. Es ist die erzählerische Ausgestaltung, es sind die antagonistischen Charaktere, die ihr dabei begegnen und die Pointen und Spannungsbögen, die daraus einen filmisch spannenden Plot machen. So bleibt die Erkenntnis, dass das Eindimensionale und Holzschnittartige schnell durchsichtig wird, und dass es das Menschliche ist, was an jeder Geschichte interessant ist. So schließt sich der Kreis zu Michael Jordan zum Anfang, es ist die Größe in der Niederlage weiterzumachen, die ihn erst zu einer spannenden Person macht.

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Lars Plickert, Storytelling-Experte und Trainer bei K16

Über Lars und seine Arbeit bei K16

Ich bin seit 2005, nur unterbrochen durch einen kurzen Ausflug in die Gründerszene, bei K16 und betreue heute als Strategischer Berater und Kommunikationsexperte Unternehmenskunden aus praktisch allen Branchen. Dazu gehören Projekte der Change-Kommunikation, der Markenentwicklung und Kommunikation im Rahmen von Events. Ein Medium, an dem man bei K16 dabei definitiv nicht vorbeikommt, sind Präsentationen. Aus meiner Sicht eine der schönsten und wirkungsvollsten Kommunikationsformen überhaupt, weil sich hier Themen unmittelbar und persönlich mit Menschen verbinden. In Workshops und Trainings berate ich Kunden dabei, wie sie die Geschichten für ihr Präsentationsthema − oft sind das komplexe B2B-Themen − in wirkungsvolle Präsentationen übersetzen und dabei auf der Bühne vor Publikum bestehen. In diesem und den folgenden Blogbeiträgen, möchte ich Erkenntnisse aus diesen Trainings und meiner Arbeit in Kundenprojekten teilen.

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